Sonntag, 5. Juli 2015

Nachgedanken zum diesjährigen Bachmannpreis



Soeben sind die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt mit der Verleihung des Bachmannpreises und anderer Auszeichnungen zu Ende gegangen. Meine Nachgedanken kreisen um zwei verschiedene Themen, die Einiges miteinander zu tun haben: Vom Allgemeinen aufs Besondere gehend sind das
1. (So platt das klingt) Die unglaublichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, das wurde angestoßen von den Texten der beiden Autorinnen Anna Baar, die bei der Preisverleihung leider leer ausging, und der 3sat-Preisträgerin Dana Grigorcea einer rumänisch-stämmigen Schweizerin.

Daraus ergibt sich nahtlos
2. Die Einwanderung in deutschsprachige Länder. In allen Dreien gibt es Stimmen, die dieses simple Faktum mit einem teilweise recht skandalösen Zungenschlag kommentieren

Ich fange bei 2 an: 2015 war das vierte Mal, an das ich mich erinnern kann, dass bei deutschsprachigen Literaturwettbewerben ein Preis an jemanden vergeben wurde, die seinen/ihren Text mit einem osteuropäischen Akzent vorgetragen hat. Ich meine Dana Grigorcea, der dieses Jahr der 3sat-Preis zuerkannt wurde. 2013 erhielt Katja Petrowskaja den Bachmannpreis, 2012 Olga Martynova. Auch in Leipzig erhielt 2014 mit Saša Stanišič jemand den Preis, der in unserer Sprache denkt und schreibt, dessen Herkunft aber in seinem Akzent noch mitschwingt, wenn er sie spricht.

Man muss diese vier AutorInnen gehört haben! Die Juroren in Klagenfurt thematisieren immer wieder, dass sie einen Spagat vollziehen müssen zwischen der Textkritik, also der Text und nichts als der Text, und der Performance, mit der dieser Text im ORF-Theater in Klagenfurt vorgetragen wird. Mit diesen Überlegungen will ich mich gar nicht aufhalten. Für mich waren die unterschiedlichen Akzente immer eine Bereicherung, und es wird Zeit, dass sich Österreicher, Schweizer und Deutsche allmählich mal dran gewöhnen, dass es sie gibt. Man stelle sich die genannten AutorInnen in neutralem Bühnen-Hochdeutsch vor. Geht gar nicht. Der Akzent gehört einfach zu ihnen, und er gibt der Lesung eine Klangfarbe, die uns nicht vergessen lässt, wodurch denn Europa so durcheinandergeworfen worden ist. Natürlich gilt das auch für jeden anderen Akzent, mit dem unsere Sprache inzwischen gesprochen wird, aber hier waren es eben Ost-Europäer.

Das bringt mich zum ersten Punkt, dem Allgemeinen. Für diese Überlegungen war auch Anna Baar ausschlaggebend, die in ihrem Text den Konflikt zwischen einer österreichischen Jugendlichen und ihrer kroatischen Großmutter beschreibt. Vorgetragen war das übrigens nicht einmal mit einem österreichischen Akzent, sondern in genau jenem neutralen Bühnen-Hochdeutsch.

Anna Baar beschreibt Symptome, und es reichen ganz wenige Andeutungen aus, um zu verstehen, worin das Leiden der geschilderten Großmutter besteht, nämlich aus den Verletzungen, die sie davontragen musste, einfach weil sie in einer bestimmten Gegend lebt, die im 20. Jahrhundert von Kriegen und Bürgerkriegen besonders schwer heimgesucht wurde, denn dort war nicht 1945 Schluss damit. Wer bei uns in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf dem Land aufgewachsen ist, wird Etliches im Verhalten dieser alten Frau wiedererkennen, was es in der gleichen Form auch bei uns gegeben hat. Die Ursachen sind nicht nur die Not und die Verletzungen, die Kriege immer nach sich ziehen, sondern auch die vormodernen Prägungen vieler Menschen, die ihre Opfer geworden sind.

Eine der Ursachen der eingangs erwähnten Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, und der Verletzungen, die so viele Menschen davontragen mussten, war der Totalitarismus. Er konnte nur gedeihen wegen dieser Vormoderne, denn Alle, die die Moderne nicht verstanden und sich von ihr bedroht fühlten, fühlten sich zunächst bestens in ihm aufgehoben und ließen sich höchst freiwillig von ihm instrumentalisieren.
Im Text der 3sat-Preisträgerin Dana Grigorcea wird der Totalitarismus auf die einzig mögliche Art und Weise beschrieben: als Realsatire. Da sie nun über 25 Jahre nach der Überwindung des Ceaușescu-Regimes schreibt, gibt sie uns auch einen Eindruck davon, wie es weiterging: Michael Jackson kommt nach Rumänien und wird mit einer durchaus an totalitäre Muster erinnernden Inszenierung wie ein Erlöser gefeiert, aber er spricht eine durch nichts wiedergutzumachende Kränkung aus: Er grüßt die ihm zu Füßen stehende Menge mit "Hello, Budapest".

Einen würdigen Abschluss fand dieser Text über den Totalitarismus und seine Folgen mit Mutmaßungen zweier im Silicon Valley reich gewordener Exilrumänen über das Sexleben von Nicolae und Elena Ceaușescu.

Ich musste bei Dana Grigorceas Text an den rumänischen Künstler Dan Perjovschi denken. Zur Eröffnung einer Ausstellung seines Werks in Frankfurt hat der einmal seine Präsentation mit einer nächtlichen Satellitenaufnahme Europas von vor 1989 begonnen. Ganz Europa war erleuchtet, der Osten deutlich weniger, aber man konnte doch die Zentren Warschau, Prag, etc. deutlich ausmachen. Von Rumänien sah man: Nichts. Stockfinstere Nacht herrschte da – kein Wunder, dass die Presseabteilung von Michael Jackson nicht wusste, wie die Hauptstadt dieser Nation hieß, und dass die reich gewordenen Emigranten keinen interessanteren Gesprächsstoff finden.

Ein weiteres umnachtetes Land in Europa war das Albanien Enver Hoxhas. Auch dort ist der Alltag des Regimes nach dessen Ende satirisch beschrieben worden: Ich meine Ismail Kadare und seinen Roman "Spiritus". Ich sehe dieses Buch in einer Reihe mit "Schnapsstadt" von Mo Yan und Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita". In allen drei Romanen geht es um die Absurditäten des Lebens in einem totalitären Regime. Die Länder, in denen diese Regime errichtet wurden, waren alle, inklusive Rumänien, bis zur Machtergreifung ihrer Diktatoren zutiefst vormoderne Länder gewesen, und entsprechend einfach hat es der Totalitarismus in ihnen gehabt (natürlich zeigt der Fall Deutschland, dass das allein nicht der Grund gewesen sein kann, aber das will ich an dieser Stelle nicht erörtern). 

Durch das absolute Verbot jeglicher Diskussion über die Verhältnisse verharrten die totalitär regierten Länder jahrzehntelang in ihren vormodernen Denkweisen, um dann ohne Umschweife in die Postmoderne katapultiert zu werden, als die Regime endlich zusammenbrachen. Die Michael-Jackson-Szene und die Mutmaßungen über das Sexleben der Ceaușescus im Text von Dana Grigorcea bringen das wunderbar auf den Punkt.
Der Text von Anna Baar machte deutlich, dass wir noch lange an dieser Vormoderne zu knabbern haben werden. Anna Baar stellte einen Generationenkonflikt dar, der sich oberflächlich als Konflikt zwischen der schieren Existenzangst, wie sie nur durch materielle Armut und Kriegsereignisse entstehen kann, mit der wohlstandsbürgerlichen Entspanntheit der Nachgeborenen-Generation deuten lässt. Die Autorin lässt aber die noch tiefer liegenden Muster des vormodernen Habitus keineswegs unerwähnt – das Verhältnis von Mann und Frau, das Fehlen von Gewalt-Tabus, das alltägliche Misstrauen Aller gegen Alle. Mich frappiert immer wieder, wie universell das alles ist – gerade bei Leuten die auf ihrer nationalen/ethischen/religiösen oder sonst was für einer Einzigartigkeit beharren.